Universelle Gedanken (oder was auch immer)
Universelle Gedanken (oder was auch immer)
Georg Petermichl
10. Februar 2023 –
18. März 2023
Website
wonnerthdejaco.com
Foto (c) Peter Mochi
Das Persönlichste ist das Universellste.
Carl. R. Rogers
Rogers ist der Begründer des weltweit einflussreichsten psychotherapeutischen Ansatzes. Er ermutigte die Menschen immer wieder, ihrer eigenen Wahrnehmung und ihrem inneren Prozess zu vertrauen, sich nicht vor den persönlichsten Dingen zu fürchten, sondern sie offenzulegen – möglichst im Rahmen einer empathischen und wertschätzenden Begleitung. Gelingt es, das Persönlichste zu artikulieren, entsteht eine emotionale Verbindung.
Georgs Exponate sind radikal persönlich. Kühn offen. Er konzentriert sich auf die innersten Aspekte seines – eigenen – Lebens. Seine Arbeiten zeigen seinen ebenso kühnen wie zärtlichen Blick auf Eltern und Geschwister. Er zeigt sie ganz nah und in ihren Blicken sich selbst. Dabei ist er auch ganz nah am Betrachter.
Die Kunstgeschichte braucht eine Abgrenzung zwischen Kunst und Alltäglichem und konzentriert sich in erster Linie auf die Kunst. Harold Garfinkel kehrt die Sichtweise um und stellt fest, wenn man dem Alltäglichen mit der gleichen Aufmerksamkeit begegnet wie dem Kunstwollen , erkennt man, dass der Alltag in Abstimmung mit anderen nur durch kunstvolle Praktiken gelingt. Sie bleiben meist als implizites Wissen in der Verhaltenspraxis verborgen. 1 Georg lenkt den Blick auf diese kunstvollen Wege dieser Vollendung . Er fängt sie ein und überhöht sie, damit man sie wahrnimmt, sie sehen kann: Das Gemälde auf dem Familienfoto. Die Stilikone in der Mutter. Die Perfektion des Lichts im Schnappschuss. Die Versteinerung des liebevoll behüteten Schlagzeugs.
Die gegenwärtige aufdringliche Überschwemmung visueller Reize, die unsere Aufmerksamkeit sofort fesselt, einsperrt, süchtig und unruhig macht, sie verbiegt und lähmt. - Pause. - Rückzug. Abstinenz. Klarheit. Radikalität. Disziplin. Sorgfalt. Liebe: Das gelingt diesen Exponaten. Wie? Bestimmte Bildpraktiken haben sich durch neue Technologien wie ein Lauffeuer verbreitet. Die ständige Verfügbarkeit von Möglichkeiten, Bilder zu erstellen, zu bearbeiten, zu speichern und zu verbreiten, hat uns dazu gebracht, das zu beherrschen, was Max Imdahl den „sehenden Blick“ nennt: Alltägliche Praktiken haben sich differenziert und in einigen Aspekten professionellen angenähert. Viele sind in der Lage, Bilder professionell, ästhetisch und auffällig aussehen zu lassen. Letztlich führt dies jedoch zu einer formalen Konvergenz. Georgs Bilder setzen hier einen Kontrapunkt. Sie sind – um wieder Imdahl zu verwenden – ikonisch komplexer, differenzierter, nicht (immer) vertraut. Subtil. Ich bin beruhigt und erfrischt von den Bildern. Ich kann etwas anschauen, ohne es zu konsumieren.
Ich habe auch etwas gelernt: Das Drücken des Auslöseknopfes bedeutet, die Emotion zu kippen, einen Affekt, eine Diskontinuität. Oft enttäuscht das Ergebnis, weil wir darin nicht den kippenden Moment finden, das, was wir festhalten wollten.
Mehrfach ausgewählt. Mehrfach gerahmt. Vor allem die Bilder aus dem Familienalbum. Auserwählt vom Vater zum Einkleben. Er ist der Abbildner und der Abgebildete zugleich und wir sehen seine Sicht auf das Bild im Bild. Die Richtigkeit, die der Moment für den Vater in all seiner Not für die anderen hat. Und damit sehen wir auch den Blick des Künstlers auf seinen Vater.
Generell sind die Blicke wichtig. Im Blick verbinden sich Abbildender und Abgebildeter. Die schwangere Schwester posiert, ohne zu posieren, ist ganz bei sich, ganz intim, ein bisschen gelangweilt, hingebungsvoll. Diese Super-Gegensätzlichkeit spiegelt sich in der Inszenierung wider: An Schaumgeborene erinnernd und gleichzeitig ganz unverfroren häuslich, unprofessionell. Lockere Vertrautheit gepaart mit fast gelangweilter Gelassenheit prägen auch die von der Kamera abgewandten Blicke von Vater, Mutter und älterer Schwester. So offenbart sich die Nähe zum Bildproduzenten nicht durch die Aufmerksamkeit des Blicks, sondern durch die Reflexion der Beziehungsqualität im Blick.
Und: Georgs Fotografien zelebrieren die Fotografie als Belichtung. Alle entstehen aus der Nähe des Übergangs zwischen Tag und Nacht, Sonnenlicht und Dunkelheit. Viele blitzten. Anachronistisch angesichts der Sensibilität der aktuellen Digitaltechnik. Aber mehr noch ein Hinweis auf die Belichtung. Die Überbelichtung von Vater und Mutter spiegelt ihr radikales Ins-Licht-Setzen wider. Sanft im Sonnenuntergang, gleichzeitig hart im Blitz. Die superkonträre Belichtung wiederholt sowohl ihre Nähe zum Bildproduzenten als auch ihre Distanz zum Fotografierten, aber auch Unbeholfenheit und gleichzeitig eine gewisse Leichtigkeit der Situation.
Im Bild der Mutter als Bildproduzentin fällt wieder alles zusammen: Der Baum, der nicht fallen soll. Das Licht, das so nicht gemeint sein kann. Draußen der Sonnenuntergang. Der Baum verschwindet zweimal, durch Fallen und durch den Blitz. Außerdem sieht man durch den Blitz das Innere und den Bilderzeuger. Das Kippen der Emotion, der Blitz, der sich in die Welt entlädt – gleichsam wie ihre Wut. Die Belichtung ist somit Träger der vielschichtigen Gleichzeitigkeit der Fotografie.
Persönliche Geschichte ist hier Zeitgeschichte. Georgs Bilder sind Dokumente des Wandels der Zeit, der Familie, der Technik. Familienfoto.
Familienalbum. Familiengeschichte. Fotopapier. Geklebte Familie. Verlust der Familie. Erhaltung der Familie. Verlust des Papiers. Erhaltung der Fotos.
Univ.-Prof. Dr. Aglaja Przyborski
Bertha von Suttner Privatuniversität
1 „[D]ie objektive Realität sozialer Tatsachen als fortlaufende Errungenschaft konzertierter Aktivitäten des täglichen Lebens, wobei die gewöhnlichen, kunstvollen Wege dieser Errungenschaft […] von Mitgliedern […] als selbstverständlich angesehen werden, ist für Mitglieder, die Soziologie betreiben , ein grundlegendes Phänomen.“ (Harold Garfinkel)
Danke an Aglaja Przyborski, Gabriel Huth, Liesl Raff, Beate Seckauer, Neuzeughammer Keramik OG, Thomas Schwaiger, Foto Leutner GmbH, Mozarteum Salzburg, Caroline Nöbauer, Martin Sulzbacher, Familie Petermichl.